Nur wenige Patienten gehen aufrecht durch den Eingang des Paraplegikerzentrums Nottwil. Die meisten fahren mit dem Rollstuhl über die Schwelle. Patrick Wicki gehört zu den Aufrechten. Daran denkt er oft, wenn er in die Klinik kommt: «Ich habe grosses Glück gehabt, dass ich wieder gehen kann.»
Seit 2 Monaten kommt er zweimal pro Woche nach Nottwil. Es ist ein weiterer Schritt auf seinem Weg zurück in ein bewegtes Leben. Ein Leben, in dem seit dem 8. Mai 2021 nichts mehr ist wie es mal war.
Es soll eine lange Skitour werden an diesem Samstag. Mit seinem Auto fährt Patrick Wicki mitten in der Nacht von Ruswil nach Davos. Um 01.30 Uhr holt er dort seinen Kollegen Ruedi ab. In der Dunkelheit fahren Sie Richtung Flüelapass. Rasch sind die Skier angeschnallt und das Duo steigt auf Richtung Flüela Wisshorn. Die Verhältnisse sind prächtig mit 70 cm Neuschnee, die Lawinenprognose ist gut. Schon bald ist der Gipfel auf über 3000 Metern erreicht.
Vor der ersten Abfahrt merkt Patrick Wicki, dass er seinen Helm im Auto vergessen hat. Er ärgert sich: «Ich hatte sonst immer einen Helm dabei. Öfters musste ich mir von meinen Begleitern Sprüche anhören, dass ich wieder unnötiges Gewicht mitschleppe. Ich habe mir noch lange Vorwürfe gemacht, dass ich ihn genau an diesem Tag vergessen habe.»
Die Tour führt über drei weitere Gipfel. Gegen 10 Uhr entfernen die beiden ein letztes Mal die Felle für die Schlussabfahrt. «Wir waren schon ziemlich kaputt und beschlossen, defensiv und langsam zu fahren.» In der Ferne sehen sie schon ihr Auto. In einem steilen Stück passiert es. Patrick Wicki erinnert sich:
Sein Kollege Ruedi war beim Sturz bereits unten am Hang. Er eilt sofort zu Patrick hin, alarmiert die Rega und zieht ihm die Zunge aus dem Rachen – er hat sie beim Sturz verschluckt und wäre daran erstickt.
Absturzstelle:
Schon nach 13 Minuten ist die Rega da. Wicki nimmt noch wahr, dass er sein rechtes Bein bewegen kann. Dann fällt sein Körper ins Koma. Die ersten 48 Stunden ist nicht sicher, ob er überlebt. Und es ist nicht klar, ob sich der Bewegungsfanatiker jemals wieder bewegen kann. Patrick Wicki steht am Start zum anstrengendsten Wettkampf in seinem Leben.
Juli 2019: Patrick Wicki überquert als 12. die Ziellinie des Gigathlons. Knapp 24 Stunden war er alleine unterwegs, 368 km Joggen, Velofahren, Schwimmen und Inlineskaten. Die Strecke führt durch seine Heimat Entlebuch. In Schüpfheim stehen viele Kollegen der Skischule an der Strecke und feuern ihn an. Ein emotionaler Augenblick für ihn. Ebenso der Zieleinlauf in Sarnen, wo er seinen Sohn Flynn stolz mitträgt.
Der Gigathlon ist nur einer von zahlreichen Wettkämpfen und Sportarten, die Patrick Wicki betreibt. Einfacher wäre aufzuzählen, was er nicht macht.
Er rennt Marathons, Städterennen, fährt mit dem Rennvelo über die Pässe oder reitet mit dem Surfbrett auf den Wellen. Er spielt im Handballclub. Im Winter zieht es ihn in die Berge, fast jedes Wochenende auf eine Skitour. Auch die Langlaufskier schnallt er sich an für den Engadin Skimarathon. Er nimmt an der Telemark-Schweizermeisterschaft teil und gibt nebenbei Skiunterricht. Als Turnlehrer an einer Mittelschule ist er sowieso jeden Tag in Bewegung.
Auch für die Gesellschaft engagiert er sich. Er leitet den lokalen Lauftreff, ist für die Mitte in der Bürgerrechtskommission und hat während der Corona-Zeit viele Aktivitäten in Ruswil organisiert. Dank ihm gewinnt die Gemeinde den Titel "Dorf des Jahres". Seine Energie scheint unbegrenzt.
Wicki sagt von sich, er habe auf der Überholspur gelebt. Es sei eine Art Sucht, beim Sport die Endorphine zu spüren. Das exzessive Bewegen war auch ein Ventil, um Emotionen zu verarbeiten. So den Tod zwei seiner besten Freunde, die beim Schneesport ums Leben kamen. Patrick Wicki ist ein tiefgründiger Mensch, der sich viele Gedanken macht. Zeit dafür hat er nach seinem Unfall zur Genüge.
10 Tage nach dem Absturz wacht Patrick Wicki aus dem Komma auf. Seine Verletzungen sind gravierend: ein 4-facher Schädelbruch, eine Hirnblutung, ein Lungenriss und Schürfwunden. Wie durch ein Wunder sind keine Knochen gebrochen, auch die Wirbelsäule ist noch ganz. Trotzdem hängt sein Leben nochmals an einem seidenen Faden, als er sich im Spital einen Käfer holt, der zu einer Blutvergiftung führt. Sein Körper kämpft und übersteht auch diese Prüfung.
So kommt Patrick Wicki in die Reha Klinik in Basel für Patienten mit schweren neuronalen Verletzungen. Fast ein Jahr lang ist er dort und bringt seinem Körper wieder die elementarsten Dinge bei wie Essen, Sprechen und Bewegungen.
Es sind kleine Schritte vorwärts und viele Schritte rückwärts. Immer wieder macht sich Verzweiflung breit, wenn etwas nicht so funktioniert, wie er es sich vorstellt. Es gibt aber auch schöne Momente. Patrick Wicki trifft in der Reha Freunde fürs Leben. Und er lernt, die kleinen Fortschritte zu schätzen. Seine positive Lebenseinstellung hilft ihm und seinem Umfeld.
Seine Frau Michelle (43) ist seine ganz grosse Stütze, sie motiviert ihn und managt gleichzeitig die Familie mit den beiden Kindern. Auch sie muss lernen, mit dem Schicksal umzugehen:
Nach 4 Monaten hat sich die Hirnverletzung so weit erholt, dass der noch immer offene Schädel operiert werden kann. Das fehlende Stück wird mit einem 3D-Drucker konstruiert und ihm eingesetzt. Nun gehen die Fortschritte schneller voran. In der Logopädie lernt er wieder richtig sprechen, danach funktioniert auch Schlucken wieder.
Nach 334 Tagen in der Rehaklinik kehrt Patrick Wicki nach Hause zurück zu seiner Familie. Auf einem Schild vor dem Haus stehen sogar die vergangenen Stunden. Seine Frau Michelle und die beiden Kinder Flynn (4) und Malou (2) haben ihn sehnlichst erwartet. Die Familie wohnt abgelegen auf einem Bauernhof, mitten in der Natur und mit herrlicher Fernsicht. Für Patrick Wicki ist die Rückkehr nach Hause ein grosser Schritt zurück in ein normales Leben. Er weiss aber, dass der Weg dorthin noch weit ist. "In meinem Marathon bin ich erst etwa in der Hälfte", sagt er.
Die Rehabilitation geht auch daheim weiter. Täglich besucht Patrick Wicki eine Klinik in Luzern oder das Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. Seine linke Seite, vor allem seine linke Hand, ist noch immer teilweise gelähmt.
Auf dem langen Weg zurück ist viel positives Denken nötig. Physiotherapeuten sind immer auch Psychotherapeuten – mit der Therapeutin Karen Schmuck unterhält er sich auch mal über Bündner Kraftorte.
Freiheit und Bewegung prägten das vorherige Leben von Patrick Wicki. Nach seinem Absturz rückten die Begriffe in weite Ferne. Nun will er seine Unabhängigkeit zurückkämpfen und so viel wie möglich selber machen. Das spürt man auch bei ihm zu Hause, hoch über Ruswil. Für den Weg zur 4 km entfernten Bushaltestelle hat er sich ein Vierrad-Elektrogefährt zugelegt. Und damit ein kleines Stück Freiheit zurückgewonnen.
Sportliche Wettkämpfe will er irgendwann auch wieder bestreiten. Dabei aber «ganz hinten einstehen» und die Rennen geniessen. Und in den Bergen hat er ein konkretes Ziel: Zusammen mit seinem Freund und Lebensretter Ruedi mit den Skiern den Piz Linard besteigen, ein Gipfel in der Nähe des Unfallortes. Und so die Berge wieder zu seinem Kraftort machen.