Es ist herausfordernd, spannend und sinnvoll. Ich habe jeden Tag mit Menschen und Geschichten zu tun, die einzigartig sind und die ganze Spannbreite des menschlichen Lebens umfassen. Ausserdem lerne ich die Stadt Luzern von einer Seite kennen, die mir bisher weitgehend verborgen war. Das bringt mich immer mal wieder zum Staunen.
Ich bin Zuhörer, habe ein offenes und wohlwollendes Ohr für Menschen. Mit Sucht- und Armutsbetroffenen über Sinn- und Lebensfragen zu sprechen und ihnen in Krisenzeiten beizustehen, ist eine Hauptaufgabe. Ich besuche sie in der GasseChuchi am Geissensteinring in Luzern, im Spital, in der Psychiatrie oder auch im Gefängnis.
Seit meinem Start als Seelsorger sind bereits sieben Personen verstorben. Aus unterschiedlichen Gründen wie Drogenkonsum, Erkrankung oder Suizid. Das Gros des Klientels, welches die GasseChuchi aufsucht, sind Personen, die in den sechziger, siebziger oder achtziger Jahren geboren wurden. Sie stehen altersmässig Mitten im Leben, sind aber teilweise ohne Perspektive. Die Eingliederung in die Arbeitswelt gelingt nur selten, ist aber auch nicht die primäre Aufgabe der Gassenarbeit. Es geht hier um Überlebenshilfe und Schadensminderung, um ein Leben und Sterben in Würde.
Das ist ein wichtiges Ritual für die Menschen, welche die GasseChuchi regelmässig aufsuchen. Jeder Mensch, egal ob auf der Gasse oder nicht, verdient einen würdigen Abschied. Und die meisten hinterlassen einen Bekannten- oder auch Freundeskreis. Für sie ist dieser Raum für Abschied und Erinnerung sehr wichtig und auch eine Gelegenheit, um über die eigene Vergänglichkeit nachzudenken. Es herrscht dann jeweils eine schöne, würde- und respektvolle Stimmung, in der auch Stille und Humor ihren Platz haben. Ehemalige Weggefährten erzählen während der Feier von Erlebnissen und unvergesslichen Momenten. Es wird auch zusammen gelacht, eine Abdankung ist nicht nur mit Trauer verbunden. Es kommt auch schon mal vor, dass der eine oder andere die Abdankung kurz verlässt und im Innenhof eins kifft oder ein Bierchen trinken geht. Die Musik wird jeweils von einem musikaffinen Gassechuchi-Besucher so ausgewählt, dass sie zum Verstorbenen passt, das ist dann selten Orgelmusik.
Ich hatte schon früh einen Draht zu Personen, die nicht ins Schema der gesellschaftlichen Anforderungen passen. Mich interessieren ihre Geschichten und ihre alternativen Sichtweisen auf die Welt und die Gesellschaft, unabhängig davon, ob ich sie persönlich teile oder nicht.
Als professionelle Berufsbezeichnung gehören einige zentrale Voraussetzungen zur Seelsorge, so zum Beispiel die Schweigepflicht, persönliche und fachliche Abgrenzung (ich bin kein Psychologe), Sensibilität für Nähe und Distanz, Orientierung am Bedarf der Betroffenen (und nicht an eigenen Interessen oder gar missionarischen Zielen) oder theologisch-spirituelle oder ritualgestalterische Kompetenzen. Wird der Begriff Seelsorge jedoch alltagssprachlich verwendet, stimme ich absolut zu: Auf Menschen zuzugehen, ihnen ein Lächeln, ein Kompliment oder ein offenes Ohr zu schenken, echtes Interesse zu zeigen, Nachzufragen, wo einem etwas auffällt, all das kann eine grosse Wirkung erzielen. Es braucht im Leben manchmal wenig, um einen Menschen ein Stück Glück, Geborgenheit, Vertrauen oder Motivation zu schenken. Seelsorge ist in dem Sinne kein Zauberwerk. Ich habe ein Beispiel dafür. In der Stadt Luzern gibt es eine Frau, die einen Kiosk betreibt und unbewusst zur Seelsorgerin wurde. Sie macht nicht nur ihren Job, sondern kommuniziert auch mit der Kundschaft. Wie geht es Ihnen? Hatten Sie einen guten Tag? Es sind oftmals nur Kleinigkeiten im Leben, die Grosses bewirken können. Viele Klienten der GasseChuchi besuchen diesen Kiosk immer wieder, einfach um mit der Frau zu reden. Menschen, die einem wahrnehmen, einem Zeit schenken und zuhören. Das Leben besteht auch aus kleinen Freuden und kleinen guten Taten.
In erster Linie ist es wichtig, dass man ihn primär als Mensch sieht und nicht nur die Etikette «drogensüchtig». Denn die Eigenschaft der Abhängigkeit, die übrigens eine Krankheit ist und nicht etwa ein Lebensstil oder sowas, ist zwar ein bedeutender Teil dieses Menschen, aber eben nur einer unter Vielen. Wie alle anderen Menschen auch, haben Süchtige individuelle Interessen, Bedürfnisse, Talente und etwas zu geben. Mit dieser Perspektive bauen sich Vorurteile, Intoleranz und unberechtigte Ängste ab. Was ebenfalls hilft, ist sich vor Augen zu halten, dass es meist Gründe gibt, warum jemand süchtig wird. Das fängt teilweise bei prägenden Kindheitserfahrungen oder Vorbelastung der Eltern an. Auch Schicksalsschlag wie beispielsweise ein Todesfall, eine Trennung oder der Verlust der Arbeitsstelle kann das Leben auf den Kopf stellen und einem aus der Bahn werfen. Der Grat, auf dem wir im Leben gehen, ist schmaler als man denkt.
Ich komme immer wieder gerne nach Ruswil. Meine Mutter und mein Bruder mit seiner Familie leben im Dorf. Hier habe ich meine Wurzeln. Das Ländliche hat mich geprägt, insbesondere die Natur habe ich schon in frühen Jahren schätzen gelernt. Prägend war ausserdem die Hausarzt-Praxis meines Vaters, unser Wohnhaus, in dem sich viele Schicksale ereignet haben, sowie Hausbesuche, die Einblick in das ganze Leben gaben. Wenn ich nach Ruswil komme, ist es eine Art Heimatnostalgie und Wohlfühloase, in der ich mich auch mal gehen lassen kann. Ich schätze das Vereins-,Gemeinschafts- und Kulturleben in Ruswil und spiele seit 25 Jahren Unihockey in Ruswil. Das ist für mich ein schöner und wichtiger Ausgleich zu meinem Berufsalltag.
Ich habe den Stellenausschrieb erst gar nicht wahrgenommen. Eine Kollegin hatte mir dann um Mitternacht eine WhattsApp Nachricht gesendet und geschrieben, das wäre doch was für mich. Da ich bereits bei einer Stellvertretung als Psychiatrie-Seelsorger in St. Urban gute Erfahrungen in der Spezial-Seelsorge machen durfte und ich die Gassenarbeit Luzern immer als positiv und sinnvoll wahrgenommen hatte, liess ich mich auf den Gedanken ein und entschied mich für die Bewerbung. In einem reduzierten Pensum arbeite ich ausserdem weiter als Bundespräses bei Jungwacht Blauring Schweiz.
Der Verein Kirchliche Gassenarbeit Luzern unterstützt mit seinen 50 Mitarbeitenden über 700 sucht- und armutsbetroffene Menschen in den Betrieben GasseChuchi; «Kontakt und Anlaufstelle K+A», «Schalter 20» und «Paradiesgässli» (Unterstützungs- und Beratungsangebot). Die Seelsorge begleitet sucht- und armutsbetroffene Menschen unabhängig von ihrer Glaubenshaltung. Sie umfasst Gespräche mit Betroffenen, Besuche (Spital, Klinik, Gefängnis oder zu Hause), Gottesdienste zu Weihnachten und weiteren besonderen Anlässen wie Taufen, Segnungen und Abdankungen. In der GasseChu--chi kann für fünf Franken Mittag gegessen werden. Die GasseChuchi – K+A bietet zudem Raum für den Konsum von mitgebrachten Drogen unter hygienischen und stressfreien Bedingungen. Medizinische Grundversorgung und Beratung sowie die Möglichkeit für Körperpflege und Kleidertausch ergänzen das Angebot. Ziel ist es, den Gesundheitszustand Suchtbetroffener zu stabilisieren und Infektionskrankheiten vorzubeugen. Dieser kontrollierte Raum leistet einen wesentlichen Beitrag zum Schutz der Öffentlichkeit vor den ne-gativen Auswirkungen des illegalen Drogenkonsums. Auch die Securitas patroulliert auf dem Gelände am Geissensteinring 24 in Luzern. Mehr Informationen gibt es unter: www.gassenarbeit.ch/angebote.